Ein Jahr danach: Nix tut sich 28.06.2019, 11:51 Uhr

Radverkehrsinitiative Changing Cities unzufrieden mit Berliner Verkehrspolitik

Vor einem Jahr wurde in Berlin das Mobilitätsgesetz beschlossen. Jetzt zieht Changing Cities, die treibende Kraft hinter der Initiative, eine teils ernüchternde Bilanz.
Die Berliner Bürger fordern bessere Radwege.
(Quelle: Volksentscheid Fahrrad/Changing Cities)
Der Volksentscheid Fahrrad hatte 2016 mit politischem Druck von unten in Berlin eine andere, fahrradfreundlichere Verkehrspolitik durchgesetzt. Das erste deutsche Mobilitätsgesetz, das auf Initiative des Volksentscheids  entstand, wurde vor einem Jahr nach langem Verhandeln verabschiedet. Der Kerninhalt: In den zwölf Jahren bis 2030 soll die Hauptstadt in eine lebenswertere Stadt mit tausenden von Kilometern Fahrradwegen, gut ausgebautem öffentlichem Nahverkehr und großflächig gefördertem Fußverkehr transformiert werden. Diese Ziele bezeichnet auch Changing Cities als ambitioniert und die Erwartungen als entsprechend hoch.
Investitionen in umweltfreundlicheren Verkehr mit weniger Emissionen, Lärm und Platzbedarf machen seit Jahren weltweit die Runde. Gezielt versuchen Städte, den verkehrspolitischen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte als Folge des Dogmas der autogerechten Stadt etwas entgegenzusetzen. Bisher gilt allerdings in Deutschland trotz Dieselskandal, Flächenfraß, Dauerstau und Klimakrise: Das Auto wird als Teil der Lösung angesehen, nicht als Teil des Problems.
Die Berliner Bevölkerung ist nach den Maßstäben von Changing Cities einen Schritt weiter: Die Zuwachsraten des Radverkehrs in Berlin seien zum Teil zweistellig und auf 1.000 Einwohner kämen inzwischen weniger als 350 Autos, einer der niedrigsten Werte Deutschlands. Mit der Initiative Volksentscheid Fahrrad haben sich die Berliner 2016 gegen Lärm, gegen schlechte Luft und für mehr Lebensqualität in der Stadt ausgesprochen. Vielleicht ahnten die Politiker auch, dass schon allein auf den jährlichen Zuzug von etwa 40.000 Menschen alleine in die Hauptstadt eine verkehrspolitische Antwort gefunden werden muss. Und so sei die Einladung der Initiative und weiterer relevanter Akteure zu einem gemeinsamen Gesetzgebungsprozess, dem Radverkehrsdialog, eine erste kluge Weichenstellung der damals frischen Koalition gewesen. Mit dem Mobilitätsgesetz hat die Berliner Verwaltung nun ein Werkzeug, mit dem sie eine verkehrspolitische Wende vollziehen können.
Berlin handelt nicht
Doch nach der Verabschiedung des Gesetzes stellten die Bürger fest: Es passiert nichts. Zumindest nichts sichtbares auf den Straßen. 80 Radverkehrsplaner müssen erst gefunden und eingestellt, Ausführungsvorschriften verfasst werden. Es dauert immer noch vier Jahre, bis ein Fahrradweg in Berlin fertig geplant und gebaut ist. Den Aktiven von Changing Cities ist aber klar: 2021 sind wieder Wahlen – bis dahin müssen sicht- und erlebbare Änderungen her, sonst verliere das Mobilitätsgesetz an Wirkung.
Also legten sie vor: Im Oktober 2018 präsentieren sie zusammen mit ADFC Berlin, dem Naturschutzverein BUND und dem Verkehrsclub Deutschland (VCD) einen Entwurf für ein Radverkehrsnetz für Berlin und überreichen ihn dem Senat. Laut Zeitplan müsste das Radverkehrsnetz bereits jetzt, im Sommer 2019, fertiggestellt sein. Hier gibt es allerdings Verzögerungen wie auch beim Radverkehrsplan, der erst im Sommer 2020 fertig ist. Als weitere Hilfestellung für die Verwaltung bereitet Changing Cities  zusammen mit dem ADFC Berlin auf Basis der Verhandlungsergebnisse des ersten Radverkehrsdialogs 2017 ein 34 Seiten starken Katalog mit Standards und Maßnahmen für die Radinfrastruktur vor, die als Grundlage in den Verhandlungen über die Vorgaben für einen Radverkehrsplan einfließen sollten. Einerseits geht es dabei um Radinfrastruktur, wie die Breite und Oberfläche von Radwegen. Andererseits wird festgelegt, wann welche Maßnahmen ausgeführt sein müssen.
Der Senat sei nach Angaben von Changing Cities entgegen aller früheren Vereinbarungen wenig verhandlungsbereit gewesen und habe das Ganze auf wenige schwammige Formulierungen zusammengefasst. Klare Vorgaben sollten nun erst später definiert werden und der Senat verzichtete auf verbindliche Zusagen. Changing Cities und ADFC Berlin riss im März der Geduldsfaden und sie verließen unter Protest die Verhandlungen. Denn ohne klare Vorgaben gibt es keine Handlungsgrundlage für Senat und Bezirke. Ohne sie würden die Planer nun wohl entweder gar nicht tätig oder sie würden handeln ins Blaue hinein. Ohne klare Vorgaben – wie z. B. Ausführungsvorschriften für Rad- und Gehwege – können die Ziele des Mobilitätsgesetzes nicht erreicht werden. Um die Vorgaben des Mobilitätsgesetzes einhalten zu können, müssen in Berlin bis 2030 aber täglich im Durchschnitt fast 700 Meter Radverkehrsanlage gebaut werden. Selbst wenn der Senat nur Radverkehrsanlagen auf den Berliner Hauptstraßen errichten würde, müsste er fast 275 Meter pro Tag fertigstellen.
Fahrradgegner wollen Radwege verhindern
Das Zuständigkeits-Pingpong, das die Berliner Verwaltung laut Changing Cities so gerne mit sich selbst spiele, sei aber nur ein Aspekt. Für die rot-rot-grüne Koalition wäre nach Sicht der Radaktivisten fatal, wenn eines ihrer ehrgeizigsten Projekte, die Verkehrswende, nur im Schneckentempo vorankommt. Es gebe Bezirke wie Reinickendorf, die sich tot stellen, in Lichtenberg dagegen gab es einen Aufschrei von Fahrradgegnern, als zehn Autoparkplätze zugunsten eines halben Kilometers geschützten Radwegs wegfallen sollten. In Steglitz-Zehlendorf forderte der CDU-Fraktionschef gar den Rückbau des ersten geschützten Radweges im Bezirks. Auch das Thema geschützte Kreuzungen hängt in der Luft. Laut Mobilitätsgesetz hätten im ersten Jahr zehn Kreuzungen sicher gemacht werden müssen. Bisher wurde laut Changing Cities keine einzige Kreuzung grundlegend optimiert.
Changing Cities fordert die politisch Verantwortlichen auf, zu erklären, weshalb sie für eine Verkehrswende votiert haben. Sie müssten den Bürgern erklären, dass Berlin 2030 beim jetzigen Wachstum etwa eine halbe Million Bürger mehr versorgen müsse. Der Senat solle „massive Maßnahmen ergreifen, damit es nicht zum Mobilitätsinfarkt kommt, zum Stillstand bei gleichzeitig steigenden Umweltbelastungen“. Schon heute verursacht der Verkehr 23 Prozent des CO2-Ausstoßes bei steigender Tendenz, und das obwohl die CO2-Bilanz bis 2050 neutral sein soll. Das Mobilitätsgesetz alleine reicht darum nach Sicht von Changing Cities nicht aus: Es müssten jetzt Ziele für die Reduzierung des Kfz-Verkehrs definiert werden.


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