Kindertransport per Fahrrad 22.03.2024, 11:32 Uhr

Unfallforschung der Versicherer kritisiert bestimmte Lastenräder als unsicher

Die Unfallforschung der Versicherer kritisiert die angeblich unzureichende Sicherheit von mehrspurigen Lastenfahrrädern beim Kindertransport. Eine erste Reaktion aus der Branche kommt von Albert Herresthal.
Lastenrad im Crashtest der Unfallforschung der Versicherer
(Quelle: UDV)
Lastenräder seien „in aller Regel für den Transport von Kindern nicht ausreichend geeignet“. Das ist ein Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV). „Eltern nutzen zur Mitnahme ihrer Kinder in Lastenfahrrädern überwiegend dreirädrige Einstiegsmodelle. Diese sind schwer zu fahren und hochgradig kippanfällig. Den Kindern bieten sie bei einem Unfall keinerlei Schutz für Kopf und Oberkörper“, sagt UDV-Leiterin Kirstin Zeidler.
Weder Sitzbänke noch Rückenlehnen seien für die sichere Beförderung von Kindern ausreichend. Dazu komme, dass jedes zweite Kind im Lastenfahrrad keinen Helm trage und ein Drittel gar nicht oder nicht korrekt angegurtet sei. „Der häufigste Unfall bei Lastenfahrrädern ist der Alleinunfall, also ohne Beteiligung Dritter. Sicherer könnten Lastenfahrräder sein, wenn sie über Neigetechnik verfügten sowie Sitze mit Kopfschutz, wirksame Gurte und eine Sicherheitszelle als Aufprallschutz hätten“, so Zeidler. „Dafür müsste beispielsweise die bestehende DIN-Norm verschärft werden.“ Neben den Herstellern nimmt die UDV auch den Gesetzgeber in die Pflicht: Die Vorschriften in der Straßenverkehrsordnung zur Kinderbeförderung mit Fahrrädern umfassen keine speziellen Anforderungen für Lastenfahrräder. „Diese Regelungslücke sollte der Gesetzgeber schnell schließen“, so Zeidler. Auch eigene Zulassungstests von Lastenfahrrädern für den Kindertransport seien sinnvoll.

Fahrradanhänger sind sicherer, aber auch mit Schwächen

Für die Studie „Kindertransport auf dem Fahrrad“ haben die Unfallforscher der Versicherer neben Lastenfahrrädern auch die Beförderung von Kindern in Fahrradanhängern sowie Kindersitzen über dem Gepäckträger untersucht. „Vorteil des Anhängers ist seine Sicherheitszelle: Fest angegurtet, berührt das Kind selbst bei einem Überschlag nicht den Boden“, sagt Zeidler. Allerdings habe auch dies physikalische Grenzen, etwa bei Kollisionen mit schnelleren Pkw. Zudem stelle sich der Anhänger bei Gefahrenbremsung schnell quer, sei leicht zu übersehen und könne wegen seiner Breite hängenbleiben. „Kinderfahrradanhänger verunfallen meist beim Einbiegen in und Kreuzen einer Straße“, so Zeidler. Optimierungsvorschläge der Unfallforscher sind eine fest verbaute Beleuchtung, eine teleskopierbare, feste Fahne mit Blinklicht und eine eigene Bremse, die das Querstellen des Anhängers verhindert. „Zudem müssen die Erwachsenen besser auf Helm und Gurte achten: Jedes zweite Kind trägt im Anhänger keinen Helm, fast jedes vierte ist nicht oder nicht korrekt angegurtet.“

Kindersitze über Gepäckträger mit erhöhter Verletzungsgefahr

Beim Kindersitz hinten am Fahrrad sind hingegen das weit oben sitzende Kind und die Fallhöhe bei einem Unfall problematisch. „Der hohe Schwerpunkt macht das Fahrrad instabil – beim Stehen, Anfahren, Ausweichen und Bremsen“, so Zeidler. „Beim Sturz ist die Verletzungsgefahr für das Kind groß“. Auch hier überwiegen Alleinunfälle. Die UDV fordert daher, das aktuell geltende Höchstgewicht von 22 Kilogramm für Kinder im Kindersitz zu reduzieren. Hersteller sollten zudem den Seitenschutz im Kopfbereich optimieren und Standsicherheit für das Fahrrad schaffen, etwa mit Dreibein-Ständer. „Eltern schätzen die Gefahr beim Kindersitz zwar besser ein, aber dennoch trägt jedes fünfte Kind auch hier keinen Helm“, so Zeidler. Immerhin sind fast 90 Prozent der Kinder im Sitz korrekt angegurtet.

Radunfälle mit Beifahrer nehmen zu

Radunfälle mit mitfahrenden Kindern sind vergleichsweise selten, nehmen aber zu. Nach den für 2022 verfügbaren aktuellen Zahlen ereigneten sich in Deutschland 222 dieser Unfälle (+45 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019), zwölf Kinder wurden dabei schwer verletzt. Unfallgegner bei Radunfällen mit mitfahrenden Kindern ist meist der Pkw. Zweithäufigste Unfallkonstellation sind Unfälle ohne Beteiligung Dritter. Laut Nutzerbefragung werden Kinder auf dem Fahrrad meist im Kindersitz befördert (35 Prozent), fast genauso häufig im Lastenfahrrad (31 Prozent) und am wenigsten im Anhänger (28 Prozent). 43 Prozent aller Kinder tragen keinen Helm, 21 Prozent sind nicht richtig oder gar nicht angegurtet.
Für die Studie hat die UDV Unfalldaten analysiert, Nutzer befragt, die Fahrdynamik mittels Probandenversuchen und Computersimulation untersucht sowie Crashversuche durchgeführt.

Albert Herresthal: Bessere Radwege nötig

Eine erste Reaktion aus der Fahrradbranche kam vom Branchenveteran Albert Herresthal, aktiv mit seinem Informationsdienst Fahrradwirtschaft. Herresthal wandte sich schriftlich an Kristin Zeidler, seit Februar neue Leiterin der UDV. Herresthal schrieb, die Studie sei unausgewogen. „Sie erklären zwar, dass Radunfälle mit mitfahrenden Kindern ,vergleichsweise selten‘ sind und dass der Unfallgegner ,meist der PKW‘ sei. Zugleich aber findet sich in Ihrer Medieninformation kein Wort zur unzureichenden Infrastruktur, die für diese Unfälle mit PKWs mitverantwortlich ist. Warum nicht?“
Viele Unfälle könnten bei einer besseren Radverkehrsinfrastruktur vermieden werden, so Herresthal, und spricht damit vermutlich für die ganze Branche. Deshalb dürfe dieser Aspekt doch bei Publikationen der Unfallforschung nicht ausgespart werden, findet Herresthal.
Durch die Publikation werde der Eindruck erweckt, dass die Mitnahme von Kindern mit Lastenfahrrädern besonders gefährlich sei, kritisiert Herresthal. 2022 gab es laut der UDV zwölf durch Unfälle schwer verletzte Kinder, die auf Lastenrädern, im Kindersitz oder auf Anhängern transportiert wurden. „Was Sie leider nicht erwähnen: Diesen zwölf schwer verletzten stehen insgesamt 51 im Straßenverkehr getötete Kinder gegenüber. Und 34 Prozent der verunfallten Kinder saßen in einem Auto. Es war wahrscheinlich nicht Ihre Absicht, aber dennoch leisten Sie mit Ihrer Darstellung dem ohnehin bestehenden Vorurteil Vorschub, dass der Kindertransport per Fahrrad ,gefährlich’ sei. Die Zahlen der Unfallstatistik belegen jedoch das erhebliche Gefahrenpotenzial des Kindertransports im Auto.“

Qualitative Expertenurteile gefragt

Die UDV hat zwar Autos nicht genannt, aber der Vergleich ist berechtigt, da Endkunden erst einmal das Auto als Alternative zum Fahrrad betrachten. Die relative Gefahr von Autos und Lastenrädern lässt sich mit entsprechenden Bezugsgrößen beurteilen, also beispielsweise Unfallopfer pro 100.000 Kilometer Lastenradverkehr oder ähnliches. Auch der Autoverkehr auf Fernstraßen müsste hier heraus gerechnet werden, da dort keine Konkurrenz zum Radverkehr besteht. Aussagen zur Gefahr von Verkehrsmitteln sollten daher nicht nur statistisch, sondern auch qualitativ beurteilt werden. SAZbike hat dafür Hersteller um Stellungsnahmen gebeten.



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