Changing Cities übt scharfe Kritik 01.07.2021, 10:19 Uhr

Braucht Berlin 200 Jahre für die Verkehrswende?

Der Berliner Radverkehrsverein Changing Cities zieht drei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes eine verheerende Bilanz: Im bisherigen Tempo würde der Berliner Senat bis zu 200 Jahre benötigen, um das Gesetz zu vollziehen.
Changing Cities fordert höheres Tempo bei der Verkehrswende.
(Quelle: Norbert Michalke)
Die Verantwortlichen führen nach Ansicht von Changing Cities, dem Verein hinter dem Volksentscheid Fahrrad, die Berliner Verwaltung nicht so, wie es für die Bedeutung der Aufgabe nötig wäre. Von den bis 2030 geplanten 147 Kilometern Radschnellverbindungen ist bisher nichts fertig. Von den bis dahin minimal 1.389 Kilometern geplanter Radwege an Hauptstraßen sind bisher 39,5 Kilometer fertig, inklusive Pop-up-Radwege. Von den bis 2030 mindestens 1.486 geplanten Kilometern ans Radnetz angeschlossener Nebenstraßen sind bisher 5,5 Kilometer fertig. Im Vorrangnetz (Plan: mindestens 772 Kilometer) ist nichts fertig.
Insgesamt wurde im Jahr 2020 weniger als ein Prozent des Berliner Radverkehrsnetzes fertiggestellt. Abgesehen von einigen Fortschritten mit Pop-up-Radwegen in Friedrichshain-Kreuzberg missachte der Senat den Auftrag des Gesetzgebers, das Berliner Radverkehrsnetz bis 2030 auszubauen, so der Vorwurf. Das wichtigste Verwaltungsdokument, der Radverkehrsplan, werde ständig verzögert und voraussichtlich nicht in dieser Legislaturperiode verabschiedet.
Verantwortlich für die unerträgliche Langsamkeit sind laut Changing Cities neben der Verkehrssenatorin (Grüne) die zwölf zuständigen Stadträte (sechsmal Grüne, viermal CDU, zweimal SPD), die das Gesetz einfach missachten würden.
In Berlin sind knapp die Hälfte aller mit dem Auto zurückgelegten Wege und gut ein Drittel aller Wege mit dem ÖPNV kürzer als fünf Kilometer. Im Rahmen der Verkehrswende müssten diese Strecken für den Radverkehr erschlossen werden. Autofahrten würden dann reduziert, und für Pendler mit längeren Wegen werde dringend benötigter Platz im ÖPNV frei.
Zudem besteht Gefahr: Die Straßen Berlins sind nach Darstellung von Changing Cities für Radfahrer und Fußgänger genauso gefährlich wie vor der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes. 19 Radfahrer und 19 Fußgänger wurden 2020 getötet – kein einziger dieser Menschen hätte nach Ansicht der Radverkehrsexperten sterben müssen, wenn die von Verkehrssenatorin Günther geführte Verwaltung ihrer Verantwortung nachgekommen wäre. Es gebe nach wie vor kein Verkehrssicherheitsprogramm, es gebe keine Vision Zero-Strategie, bei der Unfallkommission fehle jede Sensibilität für die Infrastruktur. Und die Verwaltung weigere sich schlicht, gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen umzusetzen.
Hier kann man widersprechen: Der ZIV ist der Ansicht, dass das gestiegene Radverkehrsaufkommen berücksichtigt werden muss. Daran gemessen ist Radfahren allgemein sicherer geworden. Eine Darstellung, die man auch auf Berlin anwenden kann.
Gesetz sieht Vorrang für Umweltverbund vor
Dabei sieht das Berliner Mobilitätsgesetz einen Vorrang des Umweltverbundes, Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehrs, vor. Davon sei allerdings weder auf der Straße noch in der Verwaltung viel angekommen.
„Das Berliner Abgeordnetenhaus hat die Verkehrswende beschlossen, aber der Senat hat sie nie realisiert: Es geht hier nicht um ein paar Maßnahmen oder ein bisschen Anpassung. Die Verkehrswende ist eine riesige Transformationsaufgabe. Sie setzt einen Perspektivenwechsel voraus. Weg von der Planung für KFZ-Fahrende und -Besitzende hin zu einer Förderung klimafreundlicher Mobilität. Dies erfordert vor allem klare, transparente Ziele. Nur mit einer Neuorganisation der Verwaltung, die auch temporäre Maßnahmen einsetzt, prüft und mindestens zwei Kiezblocks pro Bezirk und Jahr umsetzt, kann Berlin das Versäumte aufholen“, fordert Ragnhild Sörensen von Changing Cities.
Die Aufgaben und Notwendigkeiten einer Transformation haben sich seit 2018 nicht geändert, im Gegenteil: Die Aufgabe ist noch gewachsen. „Ein Change Management in der Verwaltung muss her, und das muss ganz oben anfangen. Für den Wandel und die dahinterstehende Vision einer künftigen Großstadt für alle brauchen wir innovatives, lern- und gestaltungsfreudiges Personal in allen Bereichen. Das ist das Anforderungsprofil an künftige Senatoren, Staatssekretären und Stadträte, die die Verkehrswende glaubhaft vertreten möchten. Das ist es, was die Zivilgesellschaft 2016 mit dem Volksentscheid Fahrrad gefordert hat und worauf sie immer noch wartet“, sagt Denis Petri von Changing Cities.
Eine Präsentation mit konkreten Forderungen und einzuhaltenden Terminen bietet Changing Cities hier.



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