Exklusivinterview
22.04.2025, 08:00 Uhr
„Unsicherheit ist der neue Normalzustand“
Die Einführung von Handelszöllen bringt der Fahrradbranche neue Unsicherheiten. Wachstumsstratege Philip Lucas erklärt im Interview, warum sich Investitionen verzögern und welche Marken besonders betroffen sind.
Mehrere Wochen dauert die von US-Präsident Donald Trump begonnene Einführung von Handelszöllen bereits an. Nach einer Eskalation Anfang April gab es zwar zwischenzeitlich wieder eine Deeskalation, doch „genau dieses Hin und Her ist Gift für die globale Wirtschaft – und damit auch für die Fahrradbranche“, sagt Philip Lucas. Wir sprachen mit dem internationalen Branchenexperten über seine Sicht auf die Auswirkungen des Handelskonflikts für die Zweiradwelt.
Anmerkung der Redaktion: Die folgenden Antworten spiegeln die Lage unmittelbar nach der Ankündigung der Zollaufschübe in Europa am 11. April wider. Angesichts der volatilen Lage im Bereich Handelspolitik, speziell vonseiten der US-Regierung, und der internationalen Reaktionen kann sich die Situation inzwischen bereits verändert haben. Dennoch geben Lucas’ Antworten in diesem Interview eine interessante Perspektive auf die möglichen Konsequenzen für die Fahrradbranche.
Philip Lucas
Philip Lucas ist Wachstumsstratege und Business Developer mit praktischer Erfahrung in Frankreich, den Niederlanden, Spanien und zahlreichen US-Bundesstaaten. Mit seiner Beratungsfirma Upshift Sports BV unterstützt er weltweit Marken aus dem Sport- und Mobilitätsbereich bei Markteintritt, Expansion und Repositionierung – von Start-ups bis zu Traditionsunternehmen. Seine Arbeit verbindet lokales Know-how mit globaler Weitsicht, strategischer Klarheit und dem Fokus auf nachhaltige Wirkung.
SAZbike: Herr Lucas, Sie sind seit vielen Jahren in unterschiedlichsten Projekten in der Fahrrad- und Mobilitätswelt aktiv und haben einen guten Einblick in die Entwicklungen in der Branche. Welche Folgen haben die jüngsten Zollentwicklungen Ihrer Meinung nach?
Philip Lucas: Unsicherheit ist viel schlimmer als schlechte Nachrichten, denn schlechte Nachrichten können eingepreist werden. Man passt Pläne an und die Märkte reagieren. Unsicherheit hingegen blockiert Investitionen, sorgt für zu niedrige Bestellungen und steigende Risikoaversion. Genau in diesem Zustand befindet sich die Fahrradbranche aktuell – niemand weiß, ob man vorangehen, pausieren oder neu planen soll. Die Zolleinführung Anfang April – und deren plötzliche Rücknahme – zeigt: Unsicherheit ist der neue Normalzustand.
SAZbike: Vorausgesetzt, die Situation bleibt weiter so volatil: Wer ist Ihrer Meinung nach am stärksten betroffen?
Lucas: Am härtesten trifft es Marken mit US-Bezug – nicht rein europäische Akteure. EU-Marken mit US-Geschäft werden feststellen, dass ihre US-Partner zögern. Selbst mit pausierten Zöllen stören 90-Tage-Fristen jede Planung. Cashflow, Produktionspläne, Forecasts – alles wird komplizierter. US-Marken könnten ihr Portfolio für Europa vereinfachen, um weniger ins Risiko zu gehen. Europäische Importeure von US-Ware könnten darunter leiden, wenn die EU mit Zöllen kontert. OEMs und Zulieferer müssen darum fürchten, dass Auftragseingänge einbrechen. Entwickler und Designer werden 2026 und 2027 aus Gründen der Vorsicht mit weniger Budget auskommen müssen. Und Händler und Vertriebe müssen sich auf SKU-Anpassungen, Launch-Verschiebungen und Planungsreibungen wie zu Covid-Zeiten einstellen. Kurz: Wer global aufgestellt ist, ist exponiert. Wer EU-intern agiert, bleibt (noch) geschützt – aber auch nicht isoliert von einem nervösen Umfeld.
SAZbike: Was bedeuten diese Unsicherheiten langfristig für den europäischen Markt?
Lucas: Für Marken mit Fokus auf Europa geht die Produktion weiter – weitgehend ungestört. Aber niemand wird aktuell große Investitionen in neue Werkzeuge oder spekulative Modelle für 2027 freigeben, wenn die Basis wackelt. Was sicher ist, wird priorisiert. Was neu ist, wird verschoben. Durch die US-Sperre könnten außerdem chinesische Überproduktionen andere Märkte fluten. China-Teile, ursprünglich für US-Aufträge gebaut, könnten in den nächsten 30 bis 90 Tagen über Rabatthändler in Europa auftauchen. In Europa könnte das zu massiven Lagerbeständen bei Discountern führen – mit Verzerrungen im Einzelhandel.
SAZbike: Die Fahrradbranche leidet seit einiger Zeit ohnehin unter hohen Lagerbeständen und dem negativen Konsumklima. Wie verzögert die durch die Zölle hervorgerufene Unsicherheit die dringend benötigte Erholung zusätzlich?
Lucas: Die Erholung verschiebt sich erneut – nicht durch direkte Schäden, sondern durch weltweite Zurückhaltung. Finanzierungen werden knapper, Lagerbestände bleiben hoch. Marken, die sich gerade wieder auf Innovation einstellen wollten, könnten nun erneut pausieren. Wer Teile aus Asien vorfinanziert hat, sieht sich obendrein mit fragilen Cashflows konfrontiert – Entscheidungen, die unter stabilen Bedingungen getroffen wurden, wackeln plötzlich. Genau das lähmt: Modelljahr-Launches, die schon einmal nach Covid verschoben wurden, stehen jetzt erneut auf der Kippe – und das ausgerechnet in einer Phase, in der die Branche neue Impulse dringend braucht.
SAZbike: Noch sind die Zolleinführungen wenige Wochen alt. Gibt es schon heute sichtbare Folgen in der Fahrradbranche?
Lucas: Mir sind noch keine gestoppten Bauprojekte oder Werksschließungen bekannt – wenn Sie darauf anspielen. Aber die strategische Zurückhaltung nimmt zu. Wer ein Standbein in den USA hat, überdenkt gerade Forecasts und reduziert Risiken. Besonders bei Modellen unter 2.500 US-Dollar reicht ein kleiner Zollsprung, um sie unwirtschaftlich zu machen. Einige Marken zögern deshalb schon heute mit dem Buchen von Produktionsslots, verschieben Marketingaktivitäten oder ändern Spezifikationen – alles nicht dramatisch, aber spürbar. Die 90-Tage-Zollpause blockiert die Planung des gesamten Sommers: keine Launches, keine Großaufträge – außer bei absoluter Notwendigkeit.
SAZbike: Welche Optionen haben Unternehmen, um zu reagieren?
Lucas: Strategische Agilität ist gefragt. Wer flexibel bleibt, kann stabil bleiben. US-Marken könnten Montage oder Versandwege neu strukturieren (zum Beispiel CKD-Kits statt Komplettbikes). Marken ohne US-Fokus sollten sich trotzdem auf Volatilität einstellen. Wer Ärger vermeiden will, trennt außerdem besser sauber: Fahrräder für den US-Markt – vor allem günstigere Modelle unter 2.500 Dollar – sollten separat geplant werden. So schützt man die restliche Produktpalette davor, bei plötzlichen Zolländerungen mit in den Strudel zu geraten. Natürlich kann man auch gezielt Chancen nutzen: Vielleicht lassen sich günstige China-Komponenten nutzen, um die Lager zu füllen – aber bitte
mit Disziplin, sonst droht das Covid-Déjà-vu. Außerdem sollte man die finanzielle Beweglichkeit erhöhen: Zahlungsziele prüfen, Lager versichern, Liquidität im Blick behalten – vor allem dann, wenn Ware bereits bezahlt ist. Das A und O ist in jedem Fall, Szenarien durchzuplanen: Mittelweg, Eskalation bei zurückkehrenden Zöllen, Entspannung – wer vorbereitet ist, ist resilient. Wer sich auf eine Option verlässt, hat verloren.
SAZbike: Sie haben zuvor gesagt,
dass Marken, die in Europa wirtschaften, einen Vorteil haben. Könnten europäische Produzenten sogar Gewinner in diesem Szenario sein?
Lucas: Das ist ein interessanter Nebeneffekt. Wer in den USA Alternativen zu China sucht, findet in EU-Montagewerken eine Chance – sofern diese flexibel und zolltechnisch attraktiv agieren. Heißt: Zwischen all der Vorsicht liegt eine leise Chance für europäische OEMs.
SAZbike: Inwieweit werden Fahrradläden oder Konsumentinnen und Konsumenten die Auswirkungen spüren?
Lucas: Das wird ebenfalls auf verschiedenen Ebenen passieren. Händler werden zum Beispiel feststellen, dass kurzfristig China-Komponenten über Online-Kanäle und Discounter
in Europa auftauchen – so wie das 2023 der Fall war. Das ist gut für Schnäppchenjäger, aber schlecht für die B2B-Margen. Mittelfristig könnten umgeleitete US-Bikes in Europa landen – Preise sinken, der Wettbewerb steigt. Langfristig erwarte ich weniger Modellvarianten und ein vorsichtigeres Lieferverhalten – niemand will zu viel versprechen bei so viel Unsicherheit. Für die gesamte Branche bedeutet Letzteres leider auch weniger Innovation und eine langsamere Entwicklung. Vor allem in der Mittelklasse werden wir das in den Modelljahren 2026 und 2027 spüren.
SAZbike: Herr Lucas, vielen Dank für das Gespräch.
Philip Lucas: Unsicherheit ist viel schlimmer als schlechte Nachrichten, denn schlechte Nachrichten können eingepreist werden. Man passt Pläne an und die Märkte reagieren. Unsicherheit hingegen blockiert Investitionen, sorgt für zu niedrige Bestellungen und steigende Risikoaversion. Genau in diesem Zustand befindet sich die Fahrradbranche aktuell – niemand weiß, ob man vorangehen, pausieren oder neu planen soll. Die Zolleinführung Anfang April – und deren plötzliche Rücknahme – zeigt: Unsicherheit ist der neue Normalzustand.
SAZbike: Vorausgesetzt, die Situation bleibt weiter so volatil: Wer ist Ihrer Meinung nach am stärksten betroffen?
Lucas: Am härtesten trifft es Marken mit US-Bezug – nicht rein europäische Akteure. EU-Marken mit US-Geschäft werden feststellen, dass ihre US-Partner zögern. Selbst mit pausierten Zöllen stören 90-Tage-Fristen jede Planung. Cashflow, Produktionspläne, Forecasts – alles wird komplizierter. US-Marken könnten ihr Portfolio für Europa vereinfachen, um weniger ins Risiko zu gehen. Europäische Importeure von US-Ware könnten darunter leiden, wenn die EU mit Zöllen kontert. OEMs und Zulieferer müssen darum fürchten, dass Auftragseingänge einbrechen. Entwickler und Designer werden 2026 und 2027 aus Gründen der Vorsicht mit weniger Budget auskommen müssen. Und Händler und Vertriebe müssen sich auf SKU-Anpassungen, Launch-Verschiebungen und Planungsreibungen wie zu Covid-Zeiten einstellen. Kurz: Wer global aufgestellt ist, ist exponiert. Wer EU-intern agiert, bleibt (noch) geschützt – aber auch nicht isoliert von einem nervösen Umfeld.
SAZbike: Was bedeuten diese Unsicherheiten langfristig für den europäischen Markt?
Lucas: Für Marken mit Fokus auf Europa geht die Produktion weiter – weitgehend ungestört. Aber niemand wird aktuell große Investitionen in neue Werkzeuge oder spekulative Modelle für 2027 freigeben, wenn die Basis wackelt. Was sicher ist, wird priorisiert. Was neu ist, wird verschoben. Durch die US-Sperre könnten außerdem chinesische Überproduktionen andere Märkte fluten. China-Teile, ursprünglich für US-Aufträge gebaut, könnten in den nächsten 30 bis 90 Tagen über Rabatthändler in Europa auftauchen. In Europa könnte das zu massiven Lagerbeständen bei Discountern führen – mit Verzerrungen im Einzelhandel.
SAZbike: Die Fahrradbranche leidet seit einiger Zeit ohnehin unter hohen Lagerbeständen und dem negativen Konsumklima. Wie verzögert die durch die Zölle hervorgerufene Unsicherheit die dringend benötigte Erholung zusätzlich?
Lucas: Die Erholung verschiebt sich erneut – nicht durch direkte Schäden, sondern durch weltweite Zurückhaltung. Finanzierungen werden knapper, Lagerbestände bleiben hoch. Marken, die sich gerade wieder auf Innovation einstellen wollten, könnten nun erneut pausieren. Wer Teile aus Asien vorfinanziert hat, sieht sich obendrein mit fragilen Cashflows konfrontiert – Entscheidungen, die unter stabilen Bedingungen getroffen wurden, wackeln plötzlich. Genau das lähmt: Modelljahr-Launches, die schon einmal nach Covid verschoben wurden, stehen jetzt erneut auf der Kippe – und das ausgerechnet in einer Phase, in der die Branche neue Impulse dringend braucht.
SAZbike: Noch sind die Zolleinführungen wenige Wochen alt. Gibt es schon heute sichtbare Folgen in der Fahrradbranche?
Lucas: Mir sind noch keine gestoppten Bauprojekte oder Werksschließungen bekannt – wenn Sie darauf anspielen. Aber die strategische Zurückhaltung nimmt zu. Wer ein Standbein in den USA hat, überdenkt gerade Forecasts und reduziert Risiken. Besonders bei Modellen unter 2.500 US-Dollar reicht ein kleiner Zollsprung, um sie unwirtschaftlich zu machen. Einige Marken zögern deshalb schon heute mit dem Buchen von Produktionsslots, verschieben Marketingaktivitäten oder ändern Spezifikationen – alles nicht dramatisch, aber spürbar. Die 90-Tage-Zollpause blockiert die Planung des gesamten Sommers: keine Launches, keine Großaufträge – außer bei absoluter Notwendigkeit.
SAZbike: Welche Optionen haben Unternehmen, um zu reagieren?
Lucas: Strategische Agilität ist gefragt. Wer flexibel bleibt, kann stabil bleiben. US-Marken könnten Montage oder Versandwege neu strukturieren (zum Beispiel CKD-Kits statt Komplettbikes). Marken ohne US-Fokus sollten sich trotzdem auf Volatilität einstellen. Wer Ärger vermeiden will, trennt außerdem besser sauber: Fahrräder für den US-Markt – vor allem günstigere Modelle unter 2.500 Dollar – sollten separat geplant werden. So schützt man die restliche Produktpalette davor, bei plötzlichen Zolländerungen mit in den Strudel zu geraten. Natürlich kann man auch gezielt Chancen nutzen: Vielleicht lassen sich günstige China-Komponenten nutzen, um die Lager zu füllen – aber bitte
mit Disziplin, sonst droht das Covid-Déjà-vu. Außerdem sollte man die finanzielle Beweglichkeit erhöhen: Zahlungsziele prüfen, Lager versichern, Liquidität im Blick behalten – vor allem dann, wenn Ware bereits bezahlt ist. Das A und O ist in jedem Fall, Szenarien durchzuplanen: Mittelweg, Eskalation bei zurückkehrenden Zöllen, Entspannung – wer vorbereitet ist, ist resilient. Wer sich auf eine Option verlässt, hat verloren.
SAZbike: Sie haben zuvor gesagt,
dass Marken, die in Europa wirtschaften, einen Vorteil haben. Könnten europäische Produzenten sogar Gewinner in diesem Szenario sein?
Lucas: Das ist ein interessanter Nebeneffekt. Wer in den USA Alternativen zu China sucht, findet in EU-Montagewerken eine Chance – sofern diese flexibel und zolltechnisch attraktiv agieren. Heißt: Zwischen all der Vorsicht liegt eine leise Chance für europäische OEMs.
SAZbike: Inwieweit werden Fahrradläden oder Konsumentinnen und Konsumenten die Auswirkungen spüren?
Lucas: Das wird ebenfalls auf verschiedenen Ebenen passieren. Händler werden zum Beispiel feststellen, dass kurzfristig China-Komponenten über Online-Kanäle und Discounter
in Europa auftauchen – so wie das 2023 der Fall war. Das ist gut für Schnäppchenjäger, aber schlecht für die B2B-Margen. Mittelfristig könnten umgeleitete US-Bikes in Europa landen – Preise sinken, der Wettbewerb steigt. Langfristig erwarte ich weniger Modellvarianten und ein vorsichtigeres Lieferverhalten – niemand will zu viel versprechen bei so viel Unsicherheit. Für die gesamte Branche bedeutet Letzteres leider auch weniger Innovation und eine langsamere Entwicklung. Vor allem in der Mittelklasse werden wir das in den Modelljahren 2026 und 2027 spüren.
SAZbike: Herr Lucas, vielen Dank für das Gespräch.