Anthropometrie in der Praxis: Wie sich veränderte Körpermaße auf Fahrradprodukte auswirken

Dr. Gerd Küchenmeister von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kiel zeigte bei der ZIV-Technikkonferenz, warum aktuelle Körperdaten entscheidend für Produktdesign und Sicherheit sind - und weshalb die Normung bisher an Frauen vorbeiging.
Die menschlichen Körpermaße verändern sich - und mit ihnen die Anforderungen an Produkte, Arbeitsplätze und Sicherheitsnormen. Darauf wies Dr. Gerd Küchenmeister, Industrieanthropologe und Lehrbeauftragter an der HAW Kiel, in seinem Vortrag auf der ZIV-Technikkonferenz 2025 hin.
Die Anthropometrie, so Küchenmeister, sei die methodische Grundlage, um Produkte nutzerorientiert zu gestalten. Sie beschreibt Körpermaße und Körperkräfte des Menschen - und wird in Produktion, Design, Warenprüfung und Normung angewendet.
Besonderes Augenmerk gilt der "Inklusivität"
Aktuell werden in einem europäischen Normungsprojekt neue Körperdaten erhoben: Für Kinder von null bis 16 Jahren liegen bereits Messwerte vor - 93 Körpermaße und sechs Körperkräfte bei Kleinkindern, 186 Maße und 14 Kräfte bei älteren Kindern. Diese Daten bilden die Basis für zukünftige Perzentil-Tabellen, die die Bandbreite menschlicher Körper erfassen.
Im nächsten Schritt sollen auch die Körpermaße Erwachsener aktualisiert werden. Geplant sind Messungen zu 345 Körpermaßen und 57 Körperkräften. Besonderes Augenmerk gilt dabei der "Inklusivität" - also der Integration weiblicher und diverser Körperformen. "Bisher waren viele Normen männerorientiert", so Küchenmeister. "Das ist nicht mehr vertretbar, denn die Hälfte der Nutzergruppe sind Frauen."
Ergonomische Anpassungen brauchen reale Nutzungskontexte
Auch für die Fahrradbranche sind diese Erkenntnisse relevant: Sitzbreiten, Lenkerformen oder Rahmengeometrien hängen direkt von anthropometrischen Daten ab. Küchenmeister zeigte, dass Breiten-, Tiefen- und Umfangsmaße in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben - mit Auswirkungen auf Komfort, Sicherheit und Stabilität von Produkten.
Ziel der neuen Datenerhebung ist es, nicht nur Zahlen zu liefern, sondern auch Handlungsempfehlungen für die Praxis zu geben. "Eine Fingerlänge darf nicht isoliert betrachtet werden", sagte Küchenmeister. "Körperwinkel, Haltung und Kleidung verändern Maße in der Nutzungssituation." Für die Fahrradindustrie bedeutet das: Ergonomische Anpassungen sollten reale Nutzungskontexte - etwa Gepäck oder Schutzkleidung - einbeziehen.
Die aktualisierten Normdaten sollen 2026 veröffentlicht werden. Damit steht Herstellern künftig eine umfassende Datenbasis zur Verfügung, um Produkte wirklich nutzerzentriert zu entwickeln.